Beziehungsunfähigkeit (aus aktuellem Anlaß)


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Abgeschickt von Lilith am 30 Maerz, 2001 um 00:01:43

DIE FLUCHT VOR DER NÄHE -
Bindungsangst und
Beziehungsunfähigkeit

Beratung und Bearbeitung: Dr. Steffen Fliegel

Bindungen sind ein wichtiger Faktor im Leben des Menschen. Bindungen
haben unterschiedliche Formen und Ausprägungen. Es gibt Bindungen zu
den Eltern, den Geschwistern, Verwandten und Freunden. Es gibt
Bindungen zum sozialen Umfeld. Bindung ist eine Wechselbeziehung
zwischen zwei und mehr Partnern.

Während die einen Menschen süchtig nach Beziehung, süchtig nach
Romanzen und süchtig nach Sex sind, sich anklammern, und dies
unabhängig von Geschlecht, Bildungsniveau und sozialem Status, haben
andere Menschen Angst vor der partnerschaftlichen Beziehung, der Ehe,
der intensiven Lebensgemeinschaft.
"Beziehungsangst" heißt dieses Problem. Diesen Menschen gelingt es
nicht, Nähe zu anderen herzustellen, und sie leiden oft darunter, sich
selbst nahe zu sein. Beziehungsängstliche Menschen wollen durchaus
eine Beziehung, führen aber gleichzeitig mit dieser irreführenden
Äußerung des Wollens die Umgebung arg in Mitleidenschaft. Sie sind
kaum in der Lage, echte Beziehungen aufzubauen, leben eher und
zwangsläufig in Pseudobeziehungen.

Beziehungen entwickeln sich: von einem lockeren Verhältnis, zu einem
festen Verhältnis, zur Monogamie, zur Monogamie mit allen gemeinsamen
Planungen, zum Zusammenleben. Jede Stufe birgt Konfliktpotentiale, und
bei größeren Störungen sollten diese Konflikte analysiert und ihre
Lösungsmöglichkeiten geklärt und angepackt werden.

Wir haben schon früh gelernt, daß gewisse Fertigkeiten und
Verhaltensweisen die Chancen beim Aufbau und der Stabilisierung einer
Beziehung fördern und vergrößern. Und so gibt es ebenso
Verhaltensweisen, die dieser Stabilisierung abträglich sein. Und obwohl
wohl genau manche dieser Fertigkeiten den Menschen aus ihrer Kindheit
für die Erfüllung von Nähe und Vertrautheit mitgegeben wurden, schaffen
sie in der erwachsenen partnerschaftlichen Beziehung eher Distanz und
Vermeidung: Zu diesen Fertigkeiten, die eher Pseudobeziehungen fördern
als echte Beziehungen, gehören u. a.:
- Jemandem zuhören, obwohl man weder daran interessiert ist, noch
einen Bezug zu dem hat, was der andere sagt
- Die eigenen Bedürfnisse jederzeit zurückzustellen, wenn man glaubt,
daß es der Beziehung zugute kommt
- Die sofortige Bereitschaft, seine oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen
- Ganz schnell versuchen, einen Traumpartner oder eine besondere
Verbindung zu erkennen
- Geheimnisse preisgeben und die ganze Lebensgeschichte ausbreiten
- Sich körperlich oder sexuell sofort angezogen fühlen
- Eine "Verbindung" einzugehen und dabei nicht zu wissen, wie man
jemandem Freund sein kann
- Ein Gefühl von Nähe oder ein sogenanntes Hochgefühl (Verliebt-sein)
herzustellen und dabei im täglichen Leben alles andere stehen und liegen
zu lassen.
- Sich von der Beziehung völlig ausgefüllt fühlen und sich diesem Gefühl
auch ständig hingeben
- Den anderen benutzen, um dem eigenen Leben zu entfliehen
- Die Beziehung zum Dreh- und Angelpunkt des Lebens zu machen
- Für alles, was in der Beziehung nicht richtig läuft, die Schuld und den
Tadel auf sich nehmen
- Auch dann noch weitermachen, wenn das Ganze bereits an Wahnsinn
grenzt
- Vollständig in die Welt des anderen eintreten
- Akzeptieren von Eifersucht als Zeichen wahrer Liebe
- In der Beziehung seine Grenzen verlieren
- Für die Beziehung unendliches Leid auf sich nehmen

Die Fähigkeit, gesunde Beziehungen aufzubauen, zu stabilisieren und in
ihnen zu leben, beinhaltet eine Reihe Voraussetzungen:
- Die grundlegende Beziehung ist die Beziehung der beiden Partner zu
sich selbst. Beide Partner sollten bis zu einem bestimmten Grad ein
bestimmtes Maß an Ehrlichkeit sich selbst gegenüber erreicht haben, und
bereitwillig die Verantwortung für sich übernehmen. Jeder Partner muß
seine eigene Persönlichkeit wahren. Die Beziehung zu sich selbst ist
gleichzeitig eine Quelle der Zufriedenheit, sie muß geduldig gepflegt
werden, um sich entwickeln zu können.
- Zu jeder intakten Beziehung gehört die Unterstützung des Partners, was
aber nicht bedeutet, sich nur noch auf den Partner zu konzentrieren.
- Fähigkeit, mit der Entwicklung einer Beziehung zu warten
- Die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, sie zu akzeptieren und ihnen zu
folgen
- Den Partner wichtig zu nehmen, aber ihn nicht ununterbrochen zu
umsorgen
- Nicht bereit sein, das eigene Leben in die Hände irgendeines anderen
Menschen zu legen
- Die Verantwortung für das eigene Leben zu akzeptieren und die
Verantwortung des Partners für sein Leben anzuerkennen
- Risiken auf sich nehmen
- Gefühle dann mitzuteilen, wenn man sie empfindet, aber auch nicht
immer
- Grenzen zu wahren und sie zu respektieren
- Fähig zu sein, dem anderen etwas mitzuteilen, ohne hinterher Kontrolle
auf dessen Reaktion auszuüben.

Menschen, die unter Beziehungsängsten leiden, trennen sich
ununterbrochen, zunächst innerhalb der gleichen Partnerschaft und von
derselben Person. Meist schaffen sie es aber nicht, ihren Partner/ihre
Partnerin zu verlassen und werden meist verlassen. In weiteren
Beziehungen erleben sie das gleiche Muster: sie wollen sich nicht
festlegen, geben dem Partner keine Sicherheit, arbeiten einer möglichen
Trennung aber sehr stark entgegen. Die Gründe für das Scheitern wird
meist beim anderen gesucht, aber auch dafür, ob die Beziehung gelingt
oder nicht. Der Aufbau wie auch das Scheitern der Beziehung erfolgt
meist nach dem gleichen Muster.
Die aktuelle Begründung für das vorprogrammierte Scheitern liegt häufig
darin, daß ein gemeinsames Wachsen mit dem Partner nicht möglich ist,
da es keine gemeinsame Zielperspektive gibt, z.B. Ehe, Kinder,
Freizeitgestaltung, Zusammenziehen, eine Zukunftsvision entwickeln usw.
Dem Problempartner geht es meist um einen Selbstzweck, nämlich den
anderen für die Befriedigung seiner unerfüllten Bedürfnisse zu "benutzen".
Es ist heute modern geworden, daß die Betroffenen davon sprechen: "Ich
bin beziehungsunfähig." Und dies wird nicht als Makel angesehen, im
Gegenteil, eine Studie hat gezeigt, daß sich jeder dritte Mann und jede
fünfte Frau für beziehungsunfähig halten.

Die Gründe für Beziehungsunfähigkeit und Beziehungsängste sind viel
weitgreifender, als daß sie nur in der aktuellen Beziehung analysiert
werden könnten:
- Fast 5000 Jahre beherrschten die Männer die Welt. Aber heute kann sich
der Mann bei seiner Suche nach seiner Identität nicht mehr auf diese
herkömmliche Tradition stützen. Er muß nicht mehr stark sein, und
Frauen sehen in ihm nicht mehr den Herrscher. Dennoch ist die alte
Tradition durch die Erziehung sowohl bei Männern wie auch bei Frauen
als Norm noch in die Köpfe eingepflanzt. Und so werden die Beziehungen
zwischen Männern und Frauen unter dieser konflikthaften Last aufgebaut
und geführt: die neuen Rollen von Männern und Frauen und die
herkömmlichen in den Köpfen verwurzelten zusammenzubringen und
eine lebensfähige Beziehung daraus zu entwickeln.
- Es fehlt nicht an Zeichen dafür, daß die einst als lebenslang und
unauflöslich verstandene, für manche überlebenswichtige, Ehe nicht mehr
so selbstverständlich ist, wie sie es einmal war. Die Ehe ist zwar auch
heute noch die von der Mehrzahl der Menschen angestrebte und gelebte
Form des Zusammenlebens, aber sie wird auch immer häufiger wieder
getrennt und in Frage gestellt, sie wird anders gelebt und vom Partner
anders verstanden als früher. Kein Zweifel, die Ehe als häufigste Form der
Partnerschaft ist in einem gravierenden Wandel begriffen. Auch die Ehe
von früher war keine Glücksquelle, aber niemand hat das von ihr erwartet.
Die heutige Ehe, die nicht mehr auf den Säulen der Zweckgemeinschaft
ruht sondern auf Gefühlen, und die sind ja bekanntlich von Hoch- und
Tiefphasen geleitet, wird von den Partnern als obligatorische Glücksquelle,
als Liebes- und Lebenserfüllung angesehen. Dies ist im Einzelfall
durchaus möglich, aber es ist nicht einzufordern. Daß in der heutigen
Ehe, soll sie erfüllend sein, immer wieder Nähe hergestellt werden muß
und zwischenzeitliche Distanz als helfend anzusehen ist, eine besondere
Ausgeglichenheit zwischen Geben und Nehmen können erforderlich,
erkennen viele Partner nicht. Wieso auch, sind doch die meisten in einer
anderen –Tradition aufgewachsen.
- Neben den eher gesellschaftlichen Bedingungen, die
Beziehungsunfähigkeit und Bindungsängste ausmachen, sind viele
Menschen durch früheren Umgang mit wichtigen Beziehungen geprägt.
- Kinder, die oft umgezogen sind und nie feste Freundschaftsbeziehungen
lange halten konnten, entwickeln möglicherweise Angst vor zu festen
Bindungen. Sie haben die Erfahrung gemacht, daß ein zu festes
Einlassen schmerzlich enden kann.
- Kinder, die eine gewaltvolle oder destruktive Ehe ihrer Eltern
kennengelernt haben, können die negativen Beziehungserfahrungen
stärker verinnerlicht und Bindung als gewaltvoll und zerstörerisch
verinnerlicht haben.
- Kinder, die vorwiegend nur mit einem Elternteil und ohne andere feste
konstruktive Beziehungen zu erfahren, groß geworden sind, konnten
möglicherweise nicht lernen, wie Beziehungen zwischen zwei
gleichberechtigten Partnern zufriedenstellend gelebt werden können.
Ihnen fehlt die Kompetenz, Beziehungen einzugehen, aufzubauen und zu
stabilisieren. Da es aber von ihnen erwartet wird, sind sie in einer
Zwickmühle, die Angst verursachen kann.
- Tiefsitzende psychische Konflikte (z.B. Angst vor dem anderen
Geschlecht, nicht akzeptierte Bi- oder Homosexualität, nach sexuellem
Mißbrauch, versteckte Ablehnung des Kinderwunsches usw.) können das
Etikett "Beziehungsunfähigkeit" stärken oder auch als Motiv für die eben
nicht fester haben wollende Beziehung gelten.

Es gibt noch zahlreiche weitere Gründe für die Unfähigkeit, Beziehungen
zu stabilisieren, wie z.B. gute Kommunikation, für sich selbst sorgen
usw., die zum Teil schon im ersten Teil des Textes angesprochen
wurden.

Es gibt unendlich viele Anzeichen dafür, wie sich Bindungsunfähigkeit und
–angst zeigen können. Es kann die Ablehnung sein, den Ehering zu
tragen, oft sind es aber andere gewichtige oder banale Anzeichen:
fortwährende Überstunden im Büro, allergische Reaktion auf Babys,
Weigerung über den Kinderwunsch zu reden, häufige Affären,
Verweigerung von Hausarbeit, kein Bedürfnis, die Familie des anderen
kennenzulernen und sie zu integrieren, beim Sex den Orgasmus
verweigern (nicht: ihn nicht bekommen können).

Nicht umsonst haben sich heute neben der klassischen Form der Ehe
zahlreiche Lebens- und Beziehungsformen entwickelt:
Wohngemeinschaften, Lebensabschnittspartner, eheähnliche
Lebensgemeinschaft, Single mit wechselnden Beziehungen,
Partnerschaften mit gemeinsamen Wohnungen, Alleinerziehende mit
verschiedenen Partners: Elternteil für die Kindererziehung, Wohnpartner
für den Lebensalltag, Liebes- und Sexualpartner. Diese verschiedenen
Möglichkeiten des Beziehungslebens sind für die Betroffenen in der Regel
Ausdruck der gesellschaftlichen Veränderungen und auch ein Protest
gegen die herkömmliche Beziehungsform Ehe, die von Kirche und Staat
als einzige leb- und förderbar ist.

Die LÖSUNGEN für die Bewältigung von Beziehungsunfähigkeit
und Bindungsangst können so vielfältig sein wie die Ursachen und
wurden zum Teil schon im bisherigen Text angesprochen. Daher noch
einige Grundsätze, die helfen können, Beziehungen in dieser Zeit
zufrieden zu leben
- Wer nie gelernt hat, Beziehungen stabil zu leben, muß nicht verzagen.
Der Lernprozess kann auch noch spät beginnen und zufriedenstellend
verlaufen.
- Die (immer vorhandenen) unterschiedlichen Wünsche werden klar
geäußert und miteinander abgestimmt. Wer dies nicht kann, auch
Kommunikation kann gelernt werden.
- Männer und Frauen sind gleichwertig, aber die Grundeigenschaft sind
nicht angeboren.
- Akzeptieren, daß die auswärtige Arbeit für viele Partner eventuell einen
höheren Stellenwert im Leben hat als das Beziehungsleben (nicht
unbedingt die Liebesbeziehung). Dieser Vorrang sollte aber beiden
Partnern gleichwertig gewährt werden.
- Es gibt nicht nur den Grundsatz: genauso wie die Eltern oder ganz
anders. Gute Beziehungen können sich in der Mitte einpendeln.
- Wer Bindungsangst hat oder sich beziehungsunfähig fühlt, sollte dies
zunächst akzeptieren. Ein offenes Aussprechen ("Ja, ich habe Angst"; "Ja,
ich fühle mich nicht gewachsen") ist manchmal ein guter und
mutmachender Anfang für Veränderung.
- Die eigenen Bedürfnisse gehören genauso zu einer gesunden
Beziehung wie die Bedürfnisse des Partners oder der Partnerin.
- Überprüfen, ob die Beziehungsangst tieferliegende Wurzel hat, die es zu
entdecken gilt. Wer dies nicht alleine schafft, in Beziehungen immer
wieder scheitert oder sie gar nicht (mehr) eingeht, sollte professionelle
Hilfe in Anspruch nehmen.
- Überprüfen, ob die Aussage "ich bin beziehungsunfähig" vielleicht hilft,
schwierigen Auseinandersetzungen, Herausforderungen und
Konfrontationen aus dem Weg zu gehen.
- Prüfen, ob andere Formen der Partnerschaft eine größere Chance für
das Paar haben, ob vielleicht ein Leben mit mehr Distanz, die wiederum
mehr Nähe schafft angebrachter ist.

Menschen mit tiefen Bindungsängsten, deren Partnerschaften immer
wieder nach dem gleichen destruktiven Ritual ablaufen, die in ihren
Beziehungen immer wieder scheitern, sollten eine psychotherapeutische
Behandlung oder Beratung als eine Lösungsmöglichkeit ins Auge fassen.
Dort würden die aktuellen und früheren tieferliegenden Gründe für die
Ängste vor Beziehungen und für die fehlenden Kompetenzen,
Beziehungen leben zu können, herausgefunden und therapeutisch
bearbeitet. Die Erfolgsaussichten, in Beziehungen zufrieden leben zu
können, sind recht groß.

INFORMATIONEN - KONTAKTE - LITERATUR

LITERATUR:

Antonia und Theo Schoenaker: Die neue Partnerschaft. das Gleichgewicht
zwischen Nähe und Distanz gewinnen. Goldmann Ratgeber Nr. 13700
1993, 12,90 DM
Catherine Herriger: Bis dass der Tod Euch endlich scheidet oder wie
Paare besser lieben lernen. Heyne-Verlag 1992, 29,80 DM
Barbara Wilde: Die Lust an der Trennung. Im Chaos der Gefühle.
Econ-Sachbuch Nr 26052 1993, 12,80 DM
Sonya Rhodes und Marlin Potash: Warum Männer sich nicht binden
wollen. Droemer Knaur 1988
Stephan Lermer und Hans-Christian Meiser: Lebensabschnittspartner. Die
neue Form der Zweisamkeit. Fischer Ratgeber Nr. 11931 1994, 14,90 DM


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