Abgeschickt von Lilith am 19 April, 2001 um 21:12:15
wig diese Liebe
                         Verliebte sind psychisch Gestörte, die sich irren. Sie meinen, ihr
                         Ausnahmezustand habe etwas mit Liebe zu tun. Zum Glück ist irren
                         menschlich – und lustvoll.
Von Carin Diodà
                         Die Ohrläppchen kribbeln, die Pupillen sind starr und
                         gross, der Puls galoppiert: Zwei Menschen im
                         Ausnahmezustand. Sie stammeln verworrene Sätze,
                         unterbrechen sich, nicken im falschen Moment, antworten
                         zu früh auf falsch verstandene Fragen. Die Diagnose ist
                         klar: Es hat gefunkt. Da sind zwei drauf und dran, sich
                         ineinander zu verlieben.
                         Früher oder später endet der Abend bei ihr oder ihm. Sie
                         werden sich schwören, ewig zu bleiben, wenn nichts
                         dazwischenkommt. Mann fürs Leben, Frau fürs Leben.
                         Doch während sie sich in seliger Selbstvergessenheit und
                         leidenschaftlicher Ekstase in den Armen liegen, erliegen
                         sie einem Irrtum, die Armen.
                         Denn mit Liebe hat Verliebtheit nicht viel zu tun.
                         Verliebtheit ist ein Rausch der Sinnlichkeit, ein
                         hormonelles Erdbeben, zeitlich begrenzt. Wenn wir uns
                         verlieben, folgen wir einem Instinkt der Natur. Liebe aber ist
                         ein Privileg des Menschen, der unerschütterliche Glaube,
                         für den anderen ein und alles zu sein. Wenn wir lieben,
                         leisten wir uns den vielleicht schönsten Luxus.
                         Dumm nur, dass wir Liebe und Verliebtheit so leicht
                         verwechseln.
                         Schlauer waren die Griechen der Antike. Sie schufen aus
                         der Göttin der Fruchtbarkeit zwei Götter der Liebe:
                         Aphrodite, die Göttin der Leidenschaft, ohne Respekt vor
                         Ehe und Familie; und Eros, den Gott der Freundschaft.
                         Damit trennten die Griechen das, was wir verlieben
                         nennen, sorgfältig von einer länger dauernden
                         Liebesbeziehung. Sie ersparten sich eine Menge Ärger.
                         Doch Frischverliebte im Jahr 2000 haben anderes im Kopf
                         als die alten Griechen. Sie meinen, auf ihrem Flug durch
                         rosa Wolken ohne Zwischenstopp direkt im siebten
                         Himmel zu landen – und dort zu bleiben, «bis dass der Tod
                         euch scheidet».
                         Hartnäckig hält sich die romantische Vorstellung von
                         Liebe, die mit Leidenschaft beginnt und zartschmelzend in
                         ewige Zweisamkeit übergeht. Gemäss einer Umfrage des
                         österreichischen Magazins «Profil» glauben 60 Prozent der
                         Frauen und Männer an die grosse Liebe. In der Schweiz
                         dürfte das Gefühlsbarometer Ähnliches zeigen: Zuoberst
                         auf dem Wunschzettel der Lebensziele stehen eine
                         glückliche Liebe, die möglichst ewig dauert, Treue und
                         Geborgenheit. Ausgerechnet Romantik ist in Zeiten
                         grösster Individualisierung das höchste der Gefühle. In der
                         Studie «romantische Beziehungen» untersuchten
                         Psychologen der Universität Bochum dieses Phänomen
                         und kamen zum selben Schluss.
                         Erregung, Leidenschaft, Sex – wir hängen alles am
                         Symbol Amor auf und schiessen mit seinen Pfeilen auf
                         alles, was sich im Dunstkreis der Liebe bewegt. Amor, das
                         süsse Kerlchen, das Schokoherzen bricht, regiert
                         uneingeschränkt. Vergessen sind die sublimen
                         Unterschiede zwischen Eros und Aphrodite.
                         Der Sündenfall geschah irgendwann zwischen dem 18. und
                         19 Jahrhundert: Die Liebe wurde neu erfunden. Zuvor waren
                         Mann und Frau verheiratet worden, man machte gute oder
                         schlechte Partien, zeugte Kinder und zog sie auf, nahm
                         sein Glück oder Unglück schicksalsergeben hin. Die Liebe
                         folgte im besten Fall hinterher.
                         Erst die Epoche der Romantik mit ihren schmachtenden
                         Dichtern verwandelte sachliche Partnerschaften in
                         gefühlsberauschte Vereinigungen von Körper und Seele, in
                         einen Hort der Glückseligkeit und Erfüllung aller
                         Lebensziele. Eine Erwartung, ein Glücksverlangen, nach
                         denen zuvor niemand gestrebt hatte; und die ganz neue
                         Möglichkeiten von Überforderung und Unglück
                         heraufbeschworen haben – bis heute.
                         Verliebte scheitern oft an übersteigerten Erwartungen von
                         Glück und Leidenschaft und Ewigkeit. Sie ignorieren, dass
                         Verliebtheit kein Zustand ist, sondern im besten Fall die
                         erste Phase einer Liebesbeziehung.
                         Wer verknallt ist, hat einen Knall: Aus ärztlicher Sicht ist
                         Verliebtheit eine «ernsthafte, psychische Störung», wie
                         Rene Diekstra von der Universität Leiden diagnostiziert. Bei
                         Verliebten sei fast alles gestört: die Wahrnehmung, das
                         Denken, das Gefühlsleben, das Verhalten. Die meisten
                         seiner «verliebten Patienten», sagt der Professor aus
                         Deutschland, «leiden an Obsessionen, aber sie leiden
                         gern». Ausserdem sei ihr Leiden meist von kurzer Dauer,
                         glücklicherweise. Denn: «Kaum einer würde es aushalten,
                         jahrelang verliebt zu sein. Das würde zur totalen
                         Erschöpfung führen.»
                         Meist dauert der Ausnahmezustand drei Monate. Die
                         Phase entspricht einem archaischen Programm in unseren
                         Genen: Nach drei Monaten stellt sich heraus, ob die Frau
                         schwanger ist. Für Paare der Urzeit war es das Signal an
                         den Mann, bei der Frau zu bleiben. Ohne Schwangerschaft
                         waren beide frei, sich andere Partner zu suchen. Mit
                         Antibabypille, Kondom und Spirale hat die Natur zwar nicht
                         gerechnet, aber das Programm läuft bis heute unbeirrt
                         weiter.
                         Biologisch gesehen hat Verliebtheit nur das Ziel, die
                         Fortpflanzung in Gang zu halten. Verliebtheit bricht ohne
                         Vorwarnung über einen Menschen herein und sorgt für
                         Aufruhr im Stoffwechsel: Die Botenstoffe Noradrenalin und
                         Dopamin rauschen durchs Gehirn und sorgen dafür, dass
                         der Blutdruck steigt, die Hände feucht werden und der
                         Verstand aussetzt.
                         Der Knaller in diesem hormonellen Feuerwerk wurde erst
                         Anfang dieses Jahres entdeckt: DARPP-32. Das
                         körpereigene Protein steuert das sexuelle Verlangen auf
                         der Ebene der Gefühle. Gefunden haben es Forscher des
                         Baylor College of Medicine in Texas, USA.
                         Entzückt über den Gefühlspuscher ist die Pharmaindustrie:
                         Viagra fürs Gemüt. In fünf bis acht Jahren soll die Pille auf
                         den Markt kommen: «Fürs Körperliche in Sachen Sex
                         leistet Viagra Grossartiges, die emotionale Seite bleibt
                         aber unberührt», erklärt Bert O’Malley, leitender
                         Molekularbiologe am Baylor College. Erst mit beiden Pillen
                         zusammen, so das Kalkül der Pharmazeuten, stimmt die
                         Chemie im Bett.
                         Was sich im Gehirn von Verliebten abspielt, wollte auch
                         die italienische Ärztin Donatella Marazziti wissen. Das
                         Ergebnis ist wenig schmeichelhaft: Der Geisteszustand
                         Verliebter ähnelt dem von Zwangsneurotikern. Donatella
                         Marazziti untersuchte zwanzig frisch verliebte Studierende
                         an der Universität Pisa und verglich sie mit einer Gruppe
                         von Zwangsneurotikern. Der Ärztin waren gewisse
                         Ähnlichkeiten im Verhalten aufgefallen. Zwar verbrachten
                         die Verliebten nicht jeden Tag Stunden damit zu
                         kontrollieren, ob sie die Wohnungstür abgeschlossen
                         hatten. Zwanghaft jedoch, nach eigenen Angaben während
                         mindestens vier Stunden täglich, dachten sie an ihre neue
                         Flamme. In der im «Psychological Medicine»
                         veröffentlichten Studie zeigt Marazziti weitere Parallelen
                         auf. Beide Gruppen, Neurotiker wie Frischverliebte, haben
                         einen auffälligen Mangel des Botenstoffs Serotonin, der bei
                         psychischen Störungen eine wichtige Rolle spielt.
                         Als die Ärztin die Gruppe der Verliebten ein Jahr später
                         wieder untersuchte, hatten sich ihre Serotoninwerte erholt.
                         Ob die Pärchen noch zusammen waren, gab die Ärztin
                         nicht bekannt.
                         Psychisch gestört, hormonell geschüttelt – sobald der
                         Rausch die vernebelten Sinne wieder freigibt, bricht die
                         Realität mit ihrer ganzen Banalität über die Verliebten
                         herein. Von einem Tag auf den anderen verwandelt sich der
                         feinfühlige, zurückhaltende Liebhaber in einen ätzenden
                         Langweiler. Und die temperamentvolle, selbstbewusste
                         Geliebte wird über Nacht zur egoistischen Nörglerin.
                         Sofern die Partner nicht entnervt den Bettel schmeissen,
                         beginnt nun das Leidenskapitel der Liebesgeschichte.
                         Der Zürcher Paartherapeut Jürg Willi gewinnt dieser Phase
                         eine positive Seite ab: «Die Enttäuschung ist nicht der
                         Beweis, dass die Utopie des Verliebtseins falsch und alles
                         nur Illusion war», schreibt er in seinem Buch «Was hält
                         Paare zusammen?». Die Entliebten müssen nicht in jedem
                         Fall den Partner in Frage stellen, sondern die doppelte
                         Überforderung anerkennen – die eigene und jene des
                         Partners: «Sie geben auf, alles was das Leben zu bieten
                         hat, vom Partner zu erwarten, und lernen auch, die
                         Erwartungen des Partners zu enttäuschen.»
                         Zoff allein sagt nicht viel aus über den Erfolg einer
                         Beziehung. Und grosse Liebe bedeutet nicht immer grosse
                         Harmonie. Entscheidend ist, was die Partner aus den
                         Konflikten machen: Wenn er oder sie eine Stunde zu spät
                         zum Rendezvous kommt, nervt das in jedem Fall – der
                         Unterschied ist, ob der Partner die Verspätung auf
                         überfüllte Strassen oder auf Schlamperei zurückführt.
                         Glückliche Paare bevorzugen die erste Variante,
                         unglückliche die zweite.
                         Ein grosszügiger Kredit, ausgestellt auf den Partner, kann
                         helfen, die Phase der Enttäuschung zu überstehen. Das
                         Hochgefühl der Verliebtheit aber hat sich bestimmt
                         verabschiedet. Die Wahrheit zeigt sich unter der
                         Bettdecke: Entweder ist die Leidenschaft mit der
                         Verliebtheit erschlafft, oder sie flammt erneut auf, weil
                         Liebe hinzukommt. «Wenn ein Paar die Enttäuschung
                         übersteht, entsteht eine vielschichtige Beziehung», sagt
                         Jürg Willi.
                         Was ein Paar nun zusammenhält, ist ihre ganz
                         persönliche Vorstellung von Liebe. Jedes Paar macht mit
                         der Liebe, was es will. Liebe ist «ein starkes Gefühl der
                         Zuneigung, des Hingezogenseins», meint der Duden. Liebe
                         ist aber auch Anhänglichkeit, Herzlichkeit, Hingabe, Sex
                         und hundert schöne Dinge mehr. Liebe ist, was zwei
                         Menschen daraus machen.
                         In dieses meist lustvolle Chaos wollen Soziologen und
                         Psychologen Ordnung bringen. Wie aber können sie ein
                         Phänomen wissenschaftlich erfassen, das sich jeder
                         Messung entzieht?
                         Auf Umwegen versuchen sie, der Liebe auf die Schliche zu
                         kommen: In den Siebzigerjahren tüftelte der kanadische
                         Soziologe John Lee ein Klassifikationssystem aus, das
                         sechs «Liebesstile» unterscheidet. Auf dieser Grundlage
                         entwickelte Hans W. Bierhoff von der Universität Bochum
                         einen psychologischen Fragebogen zur Erfassung der
                         Liebesstile (Marburger Einstellungs-Inventar für
                         Liebesstile). Bierhoff interviewte Hunderte von Paaren und
                         fragte, was für sie in einer Liebesbeziehung am wichtigsten
                         ist. Die Aussagen ordnete er sechs Liebesstilen zu, von
                         besitzergreifend bis verspielt.
                         Der Liebesstil sagt nichts darüber aus, wie gut eine
                         Liebesbeziehung ist oder wie intensiv die Gefühle sind.
                         Aber er zeigt, was für jemanden in einer Partnerschaft am
                         wichtigsten ist. Auch wenn der US-Bestsellerautor John
                         Gray seiner Leserschaft einzureden versucht, die Frau sei
                         von der Venus und der Mann vom Mars – bei den
                         Liebesstilen ist davon nichts zu merken. Es gibt keinen
                         typisch männlichen oder typisch weiblichen Stil zu lieben;
                         nur einen, der von beiden Geschlechtern klar favorisiert
                         wird: Eros, die romantische Liebe.
                         «Der stärkste Glücksbringer scheint die romantische Liebe
                         zu sein», schreibt Bierhoff in seiner Studie. Es sei der
                         emotionalste Liebesstil und jener mit der grössten
                         «partnerschaftlichen Zufriedenheit». Wer romantisch liebt,
                         liebt leidenschaftlich. Doch Leidenschaft und Ewigkeit
                         vertragen sich schlecht. Leidenschaft hat eine
                         Halbwertszeit von höchstens ein paar Jahren. Dann
                         schleicht sie eines Tages lautlos durch die Hintertüre
                         davon. Vorbei an Amor, der sich die Augen reibt – den
                         Köcher voller Pfeile, die am richtigen Leben vorbeizielen.
                         Gut 200 Jahre nach Erfindung der romantischen Liebe ist
                         es Zeit, der Realität ins Auge zu blicken: Ewige Liebe
                         dauert heute eher drei als dreissig Jahre. Wer von der
                         Romantik trotzdem nicht lassen kann, sollte es nicht zu
                         eng sehen: Auch drei, vier oder fünf Mal die Liebe des
                         Lebens macht glücklich – immer wieder, immer auf ewig.