Abhängigkeit

Jede Partnerbeziehung bedeutet auch das Zurückstellen eigener Wünsche, wenn sie mit den Interessen des Partners kollidieren. Indem man seine Handlungsweisen mit denen des Partners abstimmt, wird man also häufig zu Kompromissen gezwungen sein.

Das Zusammenleben zweier Personen bringt zwangsläufig gewisse Einschränkungen der eigenen Bedürfnisse mit sich. Das bedeutet aber keinesfalls, daß man seine eigene Identität verleugnet und sein Selbstwertgefühl einschränken muß. Wer sein Handeln nach den Bedürfnissen des Partners ausrichtet, muß nichts von seiner Eigenständigkeit und Unabhängigkeit verlieren.

Der ausgewogene Mittelweg zwischen vollkommener, auf den Partner ausgerichteter Handlungsweise und einem eigenständigen Vorgehen erfordert in jedem Zusammenleben immer wiederkehrende Reflexion über subjektive Absichten und deren effektiven "Nutzen".

In einer guten Beziehung wird es immer auch Abhängigkeiten geben. Sie sind durch Anerkennung und Respektierung der anderen Person gekennzeichnet und bedeuten nicht zwangsläufig einen Identitätsverlust eines oder beider Partner.

Menschen, die jede Hilfe und Unterstützung ablehnen, weil sie glauben, daß sie sich in eine verwundbare Position begeben, eignen sich wenig für ein partnerschaftliches Zusammenleben. Bindung bedeutet für sie Abhängigkeit, und davor haben sie Angst. Auch das Bedürfnis, anderen immer überlegen zu sein und zu beweisen, daß man alles besser weiß, ist einer konstruktiven Beziehung abträglich.

Gerade die Fähigkeit, seinen Partner um Rat fragen zu können, ihm Vertrauen entgegenzubringen und ihm auch Einblick in seine schwachen Persönlichkeitszüge zu gestatten, sind gute Voraussetzungen für eine offene, reife Beziehung.

Jedem Menschen sind von Kindheit an die Bedürfnisse nach Abhängigkeit, Liebe und Pflege einerseits, aber andererseits nach Freiheit, Selbsterfüllung, Erfolg und Unabhängigkeit gegeben. Wer sich einen sicheren Sinn für die eigene Identität und für sein Selbstwertgefühl bewahrt hat, der ist eher in der Lage, den richtigen Weg zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu wählen.

Erst der Verlust des Selbstwertgefühls und des "Ichs" bilden die Voraussetzung für ein zwanghaftes Aneinanderhängen.

Die Anklammerung an den ausgewählten Lebenspartner geht meistens mit einer pathologische Isolation von der übrigen Umwelt einher. Je stärker der Kontaktverlust zu anderen Personen, um so extremer ist die infantile Abhängigkeit von dem Lebenspartner. Des Fehlen jeglicher Autonomie verstärkt den Glauben, daß das eigene Sein unlösbar an die Persönlichkeit des Partners gebunden ist.

Solche unsymmetrischen, krankhaften Beziehungsverhältnisse können dadurch entstehen, daß der ein Partner die Eltern-Kind-Abhängigkeit übergangslos durch eine Partnerbeziehung zu ersetzen versucht. Er hat dann nie die Gelegenheit gehabt, sich auf seine eigene Person zu besinnen und das zu erfahren, was für eine gleichberechtigte kooperative Verbindung Voraussetzung ist.

Abhängigkeitsbeziehungen sind äußerst stabil. Aus eigener Motivation, ohne fremde Hilfe, werden selten Änderungen erreicht.

Auch wenn der dominante Partner seiner Bezugsperson vorwirft, abhängig zu sein, dann meist auf eine Art, die die Unselbständigkeit nur noch mehr verstärkt.

Eine Veränderung der Beziehungsstruktur kann nur erreicht werden, wenn beide Teile lernen, daß ihre Bindung nicht gefährdet ist, wenn jeder einen gewissen autonomen Bereich wahrt und Einzelinitiative entfaltet.


(von Manfred Saniter)

 

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