Schuldgefühle

Erik H. Erikson teilt die Entwicklung de Menschen in acht Abschnitte auf. In jedem dieser Abschnitte rückt ein bestimmter Konflikt in den Mittelpunkt, der zumindest weitgehend aufgearbeitet werden sollte, damit der Mensch mit späteren Konflikten erfolgreich umgehen kann.

ACHT STADIEN DER ENTWICKLUNG DES MENSCHEN
(nach Erik H. Erikson)

1. Lebensjahr Vertrauen vs. Mißtrauen
2. - 3. Lebensjahr Autonomie vs. Zweifel
4. - 5. Lebensjahr Initiative vs. Schuldgefühl
6. - 11. Lebensjahr Leistung vs. Minderwertigkeit
Jugendalter Identifizierung vs. Rollenverwechslung
frühes Erwachsenenalter Kontaktfähigkeit vs. Isolierung
mittleres Lebensalter Soziale Aufgeschlossenheit vs. Selbstversunkenheit
Alter Lebenserfülltheit vs. Verzweiflung

Die dritte Erikson'sche Phase (4. bis 5. Lebensjahr) heißt: Initiative versus Schuldgefühl. In ihr entwickeln sich viele eigenständige intellektuelle und motorische Fähigkeiten des Kindes. Es hängt nun von der elterlichen Reaktion ab, ob das Kind ein Gefühl der Freiheit und Initiative bekommt, oder ob es Schuldgefühle entwickelt. Sie entstehen, wenn die Eltern zurechtweisend und strafend reagieren. Das Kind glaubt, unerlaubt in die Welt der Erwachsenen eingedrungen zu sein und sich "ungehorsam" betragen zu haben. Solche durch ein frühkindliches Trauma angelegten Schuldgefühle können einen Menschen ein Leben lang begleiten.

In Zweierbeziehungen geraten solche Menschen häufig an einen dominanten Partner, der ihre Schuldgefühle, die meistens mit einem mangelnden Selbstwertgefühl einhergehen, ausnutzt. Von einer gleichberechtigten, gleichwertigen Partnerschaft kann in solchen Beziehungen nicht die Rede sein. Im Zweifelsfall wird der nichtdominante Partner die Schuld immer zuerst bei sich suchen, selten auf seinem Recht bestehen und allgemein wenig Durchsetzungskraft besitzen.

Am häufigsten machen sich Schuldgefühle bei sexuellen Störungen bemerkbar. Sie können für Impotenz, Frigidität, aber auch für psychosomatische Erkrankungen, wie z.B. chronische Beckenschmerzen ohne organischen Befund bei Frauen, verantwortlich sein. In fast allen Fällen liegt eine fehlende, mangelnde oder gar falsche Aufklärung zugrunde, die die Entwicklung von Freiheit und Initiative auf dem für die Partnerschaft so wichtigen Gebiet der Sexualität verhindert hat.

Wenn masturbatorische Aktivitäten (s. Masturbation) in der Pubertät starke Schuldgefühle hervorrufen, kann es in einer späteren Partnerschaft zu sexuellen Störungen kommen, weil die Schuldgefühl auf alle sexuellen Betätigungen generalisiert werden.

Junge Mädchen, die nicht angemessen auf ihre erste Periode vorbereitet werden und durch ihr Auftreten verängstigt, beschämt und von Schuldgefühlen belastet werden, neigen später nicht selten zu übermäßigen schmerzhaften Blutungen, eine Erscheinung, die als Dysmenorrhoe bezeichnet wird. Auch das Ausbleiben von Monatsblutungen (Amenorrhoe) hat häufig ihre Ursachen in sexuellen Schuld- und Angstgefühlen. Alle Störungen der Regel beeinträchtigen die sexuelle Harmonie einer Partnerschaft.

Die religiöse Erziehung spielt eine nicht geringe Rolle bei der Entwicklung sexueller Schuldgefühle. Nimmt man die Dogmen der katholischen Kirche wörtlich, so leben fast alle Menschen in Schuld und Sünde.


(von Manfred Saniter)

 

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