Nach den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie bildet sich bei Kindern erst zwischen dem 7. und 9. Lebensjahr jene Funktion heraus, die wir "Gewissen" nennen. Erst ab dieser Entwicklungsstufe können Menschen zwischen Phantasie und Realität unterscheiden und sind somit auch für den Wahrheitswert ihrer Aussage verantwortlich. Bei jüngeren Kindern kann man noch nicht von Lüge oder Diebstahl sprechen, weil sie noch nicht die Entwicklungsstufe erreicht haben, in der Wertvorstellungen wie Wahrheit oder Eigentum als sittlicher Anspruch an sie gestellt werden können
Ähnlich wie bei der Reinlichkeitserziehung, ist es wenig sinnvoll - oft sogar schädlich - wenn Eltern versuchen, durch erzieherische Maßnahmen (Bestrafung) die soziale Reifung zu beschleunigen.
Ob es eine absolute Wahrheit gibt, ist eine philosophische Streitfrage. Wenn man von Wahrheit spricht, meint man meistens so etwas wie eine "subjektive Wahrheit". Das bedeutet, daß eine Aussage mit den Gedanken bzw. Überzeugungen des Redners übereinstimmt. Diese Übereinstimmung ist der eigentliche Sinn jeder Rede und wird vom Angesprochenen vorausgesetzt.
Für jede Kommunikation ist es entscheidend, daß man sich auf die Wahrhaftigkeit des Gesprächspartners verlassen kann. Nur wenn man dieses Vertrauen (s. Vertrauen) seinem Partner gegenüber hat und auch die Wahrhaftigkeitserwartungen des anderen erfüllt, ergibt sich ein konstruktiver zwischenmenschlicher Gedankenaustausch.
Neben der Zwecklüge zum Übervorteilen und Schädigen anderer, ist die Angstlüge (auch die Lüge aus neurotischer Angst) am weitesten verbreitet. Wer oft bewußt von der Wahrheit abweicht, leidet erfahrungsgemäß meistens auch an einem mangelnden Selbstwertgefühl (s. Selbstwertgefühl).
Für den amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers ist das Hauptziel seiner nicht-direktiven Gesprächstherapie die Erziehung zu größerer "innerer Wahrhaftigkeit". Damit meint er die Fähigkeit zu realistischer Selbstwahrnehmung, d. h. sich selbst so zu sehen, wie man ist.
Wieweit aber eine gesteigerte Wahrhaftigkeit eine Garantie dafür ist, daß man über die Selbsterkenntnis hinaus sich neue Lebensziele setzen kann und sie auch verwirklicht, ist eine umstrittene Frage. Selbsterkenntnis ist nicht zwingend mit einer Selbtgestaltung verbunden.
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