Wir-Gefühl

Gemeinsame Aktivitäten in der Partnerschaft z. B. auf dem Gebiet des Sexuellen, der Kunst, des Sports und der Arbeit ohne ein Gefühl des organischen Eins-Seins, des Wir-Gefühls, können eine Beziehung so gestalten, daß man "alleine zusammenlebt": physisch eng beieinander, jedoch gefühlsmäßig auf Distanz.

Das Kleinkind fühlt sich mit seiner Mutter eins und hat noch keine Empfindungen der Getrenntheit. Es kommt eine Zeit, in der das Kind seine Autonomie genießt, wenn es merkt, daß es auf "eigenen Füßen stehen" kann. Diese ersten Anzeichen eines Ablösungsprozesses werden von den Müttern oft als schmerzlich empfunden. Aber auch das Kind vermißt das Gefühl des Eins-Seins mit seiner Mutter und seiner Umwelt. Dieser Verlust begleitet einen das ganze Leben und äußert sich später in dem Bedürfnis nach vollständiger Vereinigung, nach einer Verschmelzung mit dem anderen Geschlecht. Erich Fromm sagt:"Liebe ist Eins-Sein unter der Bedingung, die eigene Integrität und Unabhänigkeit zu bewahren und damit auch die eigene Individualität."

Da man die Getrenntheit von anderen oft als körperliche Getrenntheit erlebt, bedeutet die körperliche Vereinigung für viele Menschen zugleich die Überwindung der Getrenntheit. Bleibt es jedoch bei einer rein sexuellen Begegnung, dann entspricht diese "Liebe" einm gemeinsamen Egoismus: man glaubt, die Einsamkeit überwunden zu haben und bleibt doch einander fremd.

Zu einer dauerhaften, tiefen Beziehung gehört ein weites Spektrum gefühlsmäßiger Harmonie, daß Sicheinfühlen und Ineinanderaufgehen. Sie basiert auf Grundgefühlen, wie:

  1. Liebe (s. Liebe), das Geühl zu lieben, und das Gefühl, geliebt zu werden.
  2. Achtung (s. Anerkennung). Man akzeptiert die Individualität und Würde des Partners.
  3. Vertrauen (s. Vertrauen) darauf, daß der Partner einen mit all seinen Stärken und Schwächen voll akzeptiert.
  4. Verantwortungsgefühl (s. Verantwortung). Um der größeren Nähe und Intimität einer Beziehung willen, akzeptiert man bereitwillig notwendige Einschränkungen der eigenen Bedürfnisse.

Erst allmählich entwickelt sich aus dem Ich- und Du-Gefühl ein Wir-Gefühl. Viele Partnerschaften haben anfänglich nur wenig echte Gemeinsamkeiten.

Zwei wichtige Aspekte einer intimen Partnerschaft sind: das besonders intensive gemeinsame Erleben und eine fortdauernde Qualität der Beziehung. Diese Qualität ist das Wir-Gefühl, auf das sich eine beständige Dyade stützt. Es bleibt auch dann erhalten, wenn beide zweitweise getrennt sind, oder Streitigkeiten auftreten.

Dieses dauerhafte, verläßliche Gefühl des Eins-Seins wird nicht irgendwann einmal erworben und bleibt dann für immer bestehen. Die tägliche Auseindandersetzung mit dem Partner und das Bemühen, die Breite und Tiefe des Verhältnisses zu intensivieren, sind Vorraussetzungen für die Erhaltung und Verstärkung des Wir-Gefühls.

Der Verlust der separaten Identität und des eigenen Freiraums bis zu einem gewissen Grad ist der Preis, den man für die tiefgehende Intimität einer Beziehung zahlen muß (s. Anpassung). Dafür eröffnen sich einem aber ganz neue Dimensionen der Lebensqualität.

Das Wir-Gefühl ist mehr als nur die Summe dessen, was die Partner in die Beziehung einbringen. Durch die Interaktion der Beteiligten entstehen neue Sinninhalte.

Die wohl stärkste Wir-Gefühls-Steigerung bewirken die Zeugung eines Kindes, das gemeinsame Erleben der Schwangerschaft, die seelische Vorbereitung auf die Geburt und das Geburtserlebnis selbst.

Fragwürdig jedoch ist es, wenn schon gestörte Beziehungen sich alleine durch die "Anschaffung" eines Kindes eine Verbesserung des Partnerschaftsklimas erhoffen.


(von Manfred Saniter)

 

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