Unter Narzißmus versteht man nicht nur das krankhafte Extrem der absoluten Selbstsucht, sondern auch Strebungen der Selbstliebe, wie sie bei jedem Menschen vorhanden sein können. Die Liebe zur eigenen Person ist ein Teil der Liebe insgesamt, ohne sie wäre eine Liebe zu anderen Personen nicht zu verwirklichen. Der Narzißmus ist also nicht nur das erotische Äquivalent des Egoismus.
Sigmund Freud unterscheidet einen primären von einem sekundären Narzißmus.
Jeder Säugling durchläuft eine primär-narzißtische Phase in seinen ersten Lebensmonaten. Der eigene Person, der eigene Körper ist dann Sexualobjekt, auf ihr konzentriert sich seine Libido, seine Lebensenergie, die Freud als sexuelle Energie verstand. Zu dieser Zeit kann der Säugling noch nicht zwischen sich und seiner Umwelt unterscheiden, die Abgrenzung vom Selbst zum Nicht-Selbst ist noch nicht erfolgt.
Bei Erwachsenen mit primär-narzißtischen Störungen kann man ähnliche Tendenzen beobachten. Ihnen fehlt die existentielle Sicherheit, das Urvertrauen, sie haben Angst, mit ihrer Umwelt zu "verschmelzen". In einer Partnerschaft fällt es ihnen schwer, ihr Selbst von dem Selbst des Partners abzugrenzen.
Wenn man - in einem späteren Lebensalter - Objektbeziehungen eingeht (zu Dingen oder zu Personen), sie aber aufgrund einer (narzißtischen) Kränkung wieder aufgibt und seine Libido ganz auf sich selbst ausrichtet, dann liegt ein sekundärer Narzißmus vor. Die Selbstliebe ist hier Reaktion auf eine frustierende Umwelt oder auch seelische Verletzung. Der sekundär-narzißtisch gestörte Erwachsene besitzt ein mangelndes Selbstwertgefühl (s. Selbstwertgefühl), ist unsicher und leicht zu kränken. Seine Umwelt bzw. sein Partner sind für ihn hauptsächlich dazu da, narzißtische Selbstbestätigungen zu liefern.
Die Vorstellung, daß Liebe zu sich selbst und Liebe zu anderen einander ausschließen, ist häufig anzutreffen. Daher wird die Selbstliebe als etwas Negatives, die Liebe zu anderen aber als sehr erstrebenswert angesehen. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Dieser Bibelspruch besagt, daß die Selbstliebe nicht von der Liebe zu anderen zu trennen ist, daß das eine ohne das andere nicht zu verwirklichen ist. Die Liebe zu anderen und besonders zum Partner ist also nur dann möglich, wenn ein gewisses Ausmaß an Achtung vor der eigenen Integrität und Einzigartigkeit vorhanden ist. Einfacher gesagt: wer sich selbst nicht mag, kann auch andere nicht mögen.
In seinem Buch "Die Kunst des Liebens" sagt Erich Fromm: "Die Liebe zu anderen und die Liebe zu uns selbst ist keine Alternative. Ganz im Gegenteil: die Liebe zu uns selbst findet sich bei allen, die fähig sind, andere zu lieben. Die Liebe ist im Prinzip unteilbar, soweit es sich um die Beziehung zu Objekten und zu uns selbst handelt. Wirkliche Liebe ist ein Ausdruck innerer Produktivität und umfaßt Fürsorge, Respekt, Verantwortlichkeit und Wissen. Sie ist kein Affekt in dem Sinne des passiven Getriebenwerdens, sondern ein aktives Streben nach der Entfaltung und dem Glück der geliebten Person, das in der Fähigkeit zur Liebe (und Selbstliebe) wurzelt."
DIE AUSGEPRÄGTE SELBSTLIEBE (NEUROTISCH)
Aus psychoanalytischer Sicht sehnt sich der extrem narzißtische Mensch nach dem primär-narzißtischen Zustand seiner ersten Lebensmonate zurück. In dieser Phase gibt es - ähnlich wie im Mutterleib - noch keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Selbst und der Umwelt.
Da dem erwachsenen Narzißt eine absolute Verschmelzung mit seinem Partner (Objekt) nie gelingt, läßt er nur Teilaspekte einer Beziehung zu, die für ihn nicht angstauslösend sind, die seiner narzißtischen Erwartungshaltung entgegenkommen. Jede Störung dieser vermeintlichen Einheit zwischen seiner Idealerwartung und der Realität (Reaktion des Partners) läßt ihn schmerzlich das Getrenntsein von seiner Bezugsperson erfahren. Allein die unrealistische Erwartungshaltung nach einer totalen Harmonie in einer Partnerschaft, macht jede narzißtische Beziehung äußerst anfällig gegen alle Störungen von innen oder außen. Deshalb beschränkt sich auch das Interaktionsspektrum narzißtischer Partnerschaften auf die Bereiche, die als stabilisierend und nicht bedrohlich empfunden werden. Die Abgrenzung narzißtischer Dyaden (Zweierbeziehungen) ist nach außen und nach innen weitgehend unflexibel. Es hat sich gezeigt, daß solche Beziehungsformen (s. Beziehung) allein schon durch ihre Rigidität (Starrheit) wenig befriedigend sind und selten lange andauern.
DIE NARZISSTISCHE PARTNERWAHL
Grundsätzlich fürchten sich Menschen mit ausgeprägten Neigungen zur Selbstliebe vor einer festen Partnerschaft oder Ehe. Es ist für sie auch nicht leicht, einen Partner zu finden, der in der Lage ist, ihren überhöhten Selbstverwirklichungsansprüchen nachzukommen. Einmal sollte der Komplementärnarzißt (Komplement=Ergänzung) möglichst wenig eigene Ansprüche stellen, zum anderen wird von ihm erwartet, daß er das Selbstwertgefühl des Partners durch Verehrung und Idealisierung kompensiert.
Der Partner eines Narzißten ist ihm oft in Intelligenz, Bildung und sozialer Herkunft unterlegen, so daß er schon deshalb leichter zu manipulieren ist (s. Manipulation).
Auch der Komplementärnarzißt verspricht sich aus einer Beziehung Vorteile. Sein geringes Selbstwertgefühl wird durch die schwärmerische Idealisierung des Partners aufgewertet. Er findet in ihm ein Ersatz-Selbst.
DER NARZISSTISCHE PAARKONFLIKT
Den Mechanismus eines narzißtischen Paarkonflikts beschreibt der Psychiater und Ehetherapeut Jürg Willi: "Indem der Komplementärnarzißt sich völlig für den Partner aufgibt und nur in diesem lebt, macht er sich durch Identifikation das Selbst des Narzißten zu eigen und nagelt ihn fest auf das idealisiert Bild, daß er sich von ihm macht. Indem der Narzißt sich so sehr mit den ihn aufwertenden Projektionen von seiten des Partners indentifiziert und auf die Bewunderung des Partners angewiesen ist, läßt er sich zunehmend von dem auferlegten Idealbild des Partners bestimmen. Wohl versucht er sich vom Komplementärnarzißten abzugrenzen. Er wird aber zunehmend zum Gefangenen der Idealvorstellungen des Partners."
Der Narzißt: "Ich bin so böse und rücksichtslos, weil du mich verpflichtest und einengst."
Der Komplementärnarzißt: "Ich enge dich ein, weil du so rücksichtslos zu mir bist."
Je extremer die Position der narzißtischen Zweierbeziehung ist, um so größer wird der Beziehungskonflikt.
Die extreme gegenseitige Abhängigkeit (s. Abhängigkeit) und die Angst vom Partner körperlich und seelisch im Stich gelasssen zu werden, begünstigt das Gefühl, in eine Beziehungsfalle geraten zu sein. In dem Maße, wie die narzißtischen Tendenzen durch die eingeengte Interaktion wachsen, verstärkt sich auch die allgemeine Isolation durch die alleinige Konzentration auf den Partner.
"Eingespielte" narzißtische Beziehungen, die unter ihren Interaktionsdefiziten leiden, sind therapeutische schwer zu behandeln. Das liegt u.a. auch daran, daß die Therapieerwartung oft unrealistisch ist. Narzißtische Zweierbeziehungen hoffen mit Hilfe des Therapeuten den angestrebten Zustand des vollkommenen "Einsseins" zu erreichen.
Das Therapieziel besteht aber eher darin, eine Annäherung und Harmonie durch eine klare Unterscheidung und Abgrenzung der beiden Partner zu ermöglichen.
Im Laufe der Therapie wird angestrebt, daß der Komplementärnarzißt ein eigenes Selbst entwickelt, unabhängig von der Reaktion des Partners. Der Narzißt sollte lernen sich von den idealisierten Erwartungen des Partners nicht mehr einengen und überfordern zu lassen.
Beide Beteiligten sollten auch gefühlsmäßig begreifen, daß sie Einzelpersönlichkeiten sind, die durchaus auch ohne ihren Partner "existieren" können.
zurück zum Lexikon